Martha - meine Lehrmeisterin in Geduld

Eigentlich wollte ich schon seit der Schulzeit Menschen mit einer Behinderung dabei unterstützen ein weitestgehend "normales" Leben zu führen. Aus dem ursprünglichen Berufswunsch Sonderschulpädagogin wurde zumindest ein diakonisches Jahr in einer Behinderteneinrichtung. Der anschließende Versuch im Bereich der Rehabilitation einen Beruf zu erlangen scheiterte. Immerhin war ich mir nach all meinen Erfahrungen nun sicher, dass ich Theologie studieren wollte. Nach erfolgreichem Studienabschluss, Promotion und Vikariat wollte es der Zufall, dass ich mich wiederum mit dem Gedanken trug meinen jetzigen Beruf mit dem ursprünglichen Berufswunsch zu verbinden. Ich hatte bereits eine Stelle als theologischer Mitarbeiter in einer großen diakonischen Einrichtung für geistig behinderte Menschen in Aussicht als Martha unterwegs war.

Wir freuten uns riesig, als wir überraschend von der Schwangerschaft erfuhren. Unser erstes Kind, Elias, war gerade zweieinhalb Jahre alt und so war es einfach eine große Freude, dass er bald ein Geschwisterchen haben würde. Da ich bereits 35 Jahre alt war, wurde ich über die vielfältigen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik aufgeklärt. Ich lehnte dankend ab und sagte. "Wir nehmen das Kind wie es kommt. Wir freuen uns darauf." Über diese Sätze haben mein Mann und ich länger nachgedacht als wir es zuvor geahnt hätten.

Denn wenige Wochen später, in der 19. Schwangerschaftswoche, erfuhren wir, dass wir ein Mädchen mit einer Trisomie 21 erwarteten. Für mich war es Schock und Erleichterung zugleich. Ich hatte plötzlich die Bilder von den Menschen mit Down-Syndrom in der diakonischen Einrichtung vor Augen, in der ich ein halbes Jahr zuvor ein Praktikum gemacht hatte. So war mir auch bewusst, dass die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit dieser Besonderheit sehr unterschiedlich sein konnten; genau wie auch bestimmte "Begleiterkrankungen" typisch für das Syndrom sind. Da war also das Unwissen wie "schlimm" es um unsere Tochter - unsere "Special Edition" - stand bis zur Geburt auszuhalten.

Da blieb lange die bange Frage, ob eine Rückkehr in meinen Beruf als Theologin mit dem Ziel Pfarramt überhaupt realisierbar wäre? Da war auch die Frage, ob Elias als älterer Bruder in den Hintergrund rücken müsste. Da war Zweifel, dass wir noch weitere Kinder haben würden. Das einzig positive an der gesicherten Diagnose war, wir erwarteten ein Kind, ein Mädchen, unser Kind und das sollte Martha (hebräisch: Herrin) heißen. Und wir würden dieses Kind bekommen. Und je mehr wir Informationen zum Down-Syndrom sammelten, um so mehr freuten wir uns auf unser Kind. ....und ich war überglücklich als ich Martha endlich nach einer natürlichen Entbindung im Arm halten konnte. Alles war dran - ein richtiges, winziges, fröstelndes Menschenkind, das genau wie alle anderen Neugeborenen die nötige Liebe, Geborgenheit, Fürsorge; aber eben deutlich mehr "Impulse" für seine optimale Entwicklung brauchte. Dieses überwältigende Glück nach der Geburt hat all meine anfänglichen Sorgen und Fragen schwinden lassen. Lediglich der kurz darauf per Ultraschall diagnostizierte schwere Herzfehler überschattete die große Freude über unsere süße Tochter.

Mittlerweile ist Martha ein fröhliches siebenjähriges Mädchen, das gern "auf Achse" ist, immer neugierig, immer hilfsbereit und wie alle Vorschulkinder weitestgehend selbständig. Und in dieser ihr eigenen Art fordert sie meine Geduld heraus. Schon oft habe ich ein profanes Stoßgebet ausgesprochen: "Lieber Gott, lass Nerven wachsen!" Sie kann viel; nur will sie oft mehr als sie schon kann. Das sorgt für Frustration, genauso wie das Nichtverstandenwerden. Die Sprache ist Marthas größtes Handicap. Dabei ist sie enorm mitteilungsbedürftig.

Ein Teil ihres "Marthanisch" verstehen wir mittlerweile und manchmal hilft auch die Gebärdensprache, aber eben nicht immer... Dennoch haben wir die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sie mit der Schule auch eine Stütze im Erlernen der Schriftsprache findet. Ein ganzheitlicher Ansatz ist überhaupt für die gesamte Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom hilfreich.

Martha erhält die übliche Förderung wie Logo- und Ergotherapie. Früher haben wir auch noch Schwimm- und Reittherapie besucht. Letzeres war nach unserem Umzug und der wachsenden Geschwisterzahl nicht mehr zu schaffen. Ja, Martha hat mittlerweile vier aufgeweckte Brüder an ihrer Seite, die - glaube ich - die erfolgreichsten "Therapeuten" sind.

Und ich, ich habe bis heute meinen ursprünglichen Berufswunsch nicht in einen "Broterwerb" dafür aber in ein "Tagewerk" verwandelt, was m.E. der schwierigere Part ist. Ich freue mich über meine einzige, besondere Tochter, die im übrigen Papas Liebling ist. Ich bin erstaunt über ihre unglaubliche Energie, wenn sie für eine Sache brennt. Ich bin häufig sauer, wenn sie nach ihrem eigenen Kopf handelt. Ich fürchte oft ihre unüberlegten, spontanen Handlungen. Ich bin fast immer wachsam, wenn sie wieder auf Achse ist. Ja, ich hätte gedacht, dass ich genug Geduld habe, um einmal einen Menschen mit einer Behinderung auf dem Weg in ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben begleiten zu können. Allein Martha ist meine Lehrmeisterin in Geduld.

Gut Ding will Weile haben.

Ines